to see and to be seen, Kunstverein Wunstorf, Katalog 1997 Dr. Heinz-Gerhard Friese

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Sehen und Gesehenwerden

Spielerisch sanft, fast nachgiebig, scheint Ursula Krämer auch dem Betrachter Platz einzuräumen, weil ihre Motive den Nahraum vorzuziehen scheinen. Doch verwandeln die überlebensgroßen Bilder mit Wäsche auf Kleiderbügeln den Betrachter im Rückraum der Ausstellung nicht in einen Käfer im Kleiderschrank? Das schiere Blow-Up von Banalitäten müsste uns noch zusätzliche platzangst bescheren, entstünden nicht aus der Zweideutigkeit zwischen Abbildungsding und purer autonomer Farbfläche weite Wege der Er-Fahrung.

Ein zweites Motiv gibt ein Echo auf den Akkord aus physischer Nähe und imaginärer Ferne: Der Stoff, auF dem die Bilder sind, wird variiert in den Stoffen, auS denen die Bilder sind. Nicht nur die Bilder mit Stoff auf Bügel, auch noch die letzten Bilder auf braunem Grund winken häufig mit Stoffen. Der textile Bildträger, von dem wir in der abendländischen Tradition die äußerste oder besser:die innerlichste Sublimation des euklidischen Raumes erwarten, zeigt und hier Textilien, die ja in mehrerlei Hinsicht an der renze zwischen Körper und Raum residieren und ‚Übergang‘ bedeuten. Fast so flach wie bloße Bildraumträger, sind die Stoffe doch zu großen Gesten im Raum ebenso fähig wie zu unabsehbaren Entfaltungen von Faltenräumen. Das reicht von winkenden Taschentüchern über Fahnen, ‚running fences‘ bis zum großen blauen Wehen auf braunem Grund auf der Rückseite der Mittelwand des ausstellungsraumes mit Wunstorfer Wurzeln.

Die stärkste raumsprengende, raumerneuernde Wirkung auf Krämers Bildern geht aber wohl von den braunen Gründen ihrer neuesten Bilder aus. Gleich vis a‘ vis vom Eingang tritt uns eine Phalanx von dicht gehängten Bildern entgegen, die den Riegelcharakter der Mittelwand durch ihre braune Opazität eigentlich noch verstärken mü?te. Doch durch eine geheime Alchemie scheint es Krämer zu gelingen, eine anhaltlose, also mächtige Tiefe zu zaubern, so stark wie das Blau der Romantik, aber weder so sentimental noch so allegorisch. Das Geheimnis ist nicht gelüftet, wenn man einige Ingredienzen und Techniken erwähnt: Der braune Grund ist kein Bildhintergrund, sondern ein Malgrund aus Acryl, der aber eher angestrichen ist als gemalt. Vom äußeren Raum hat sich ihm gerade soviel eingeschrieben, wie sich durch das Einhalten eines gleichen Abstandes mittels ausgestrekten Armes der An-streicherin übermitteln lässt: nicht Signifikantes. Idealiter ohne jede dargestellte Raumandeutung ist der braune Grund nichts als eine monochrome senkrechte Wand – oder ein völlig inkommensurabler Raum wie etwa das Nachtblau zwischen den Sternen (solange kein Komet oder Satelit das entrückte Raumbild dreidimensional vermittelt, also profaniert). Nein; er ist keine Wand, sondern eine fein-stoffliche Ferne, weil er das ganz andere des in Öl emalten ist. Aber auch das in Öl Gemalte, das uns mit seinen glänzenden Eigenschaften entgegenkommt, das (uns) augen macht im Acryl, ist das ganz andere des Grundes. Diese Zweisprachigkeit, die sich die physikalischen Unterschiede der Farbstoffe zu eigen macht, schafft einerseits Abstände (also Raumgröße) aus wechselseitiger Fremdheit, andererseits begründet sie einen quasi nächtlichen Raum: Dunkles Acryl außen setzt vom Tageslicht die bildlichen Zonen des Eigen-Sinns ab, aus denen es innen umso heller hervorleuchtet. Diese ‚Sternbilder‘ funktionieren also ähnlich wie unter dem Nachthimmel und auf einem nachtbild. Durch diese Entrückungstechnik schafft Krämer, dass die sensible Nuancierung der Farbübergänge kraftvoll erschein. In ihrem Reich sind feine Balance und ein kühner Sprung ins Nichts: eins.

to see and to be seen, Kunstverein Wunstorf, Katalog 1997
Dr. Heinz-Gerhard Friese